8 Als Gott die Zeit machte...

Daß der Gottesdienst erst beginnen kann, wenn der Pfarrer erscheint, ist einleuchtend; daß aber das Kino erst beginnt, wenn alle Priester, die ansässigen wie die Urlauber, vollzählig versammelt sind, ist für den Fremden, der an kontinentale Gebräuche gewöhnt ist, eine Überraschung. Es bleibt ihm die Hoffnung, daß der Pfarrer und seine Freunde ihr Abendessen, ihren Nachtischschwatz bald beendet haben; daß sie sich nicht allzusehr in Erinnerungen vertiefen: Die Skala der Weißt-du-noch-Gespräche ist unerschöpflich; Lateinlehrer, Mathematiklehrer, und erst der Geschichtslehrer!

Der Kinobeginn ist auf 21 Uhr angesetzt, doch wenn irgend etwas unverbindlich ist, dann diese Uhrzeit. Selbst unsere vagste Verabredungsformel, wenn wir so gegen 9 sagen, hat dagegen den Charakter äußerster Präzision, denn unser So gegen 9 ist um halb zehn zu Ende, dann fängt So gegen 10 an; dieses 21 Uhr hier, die nackte Deutlichkeit, mit der es auf dem Plakat steht, ist die reine Hochstapelei.

Seltsam genug, daß sich niemand über die Verspätung ärgert, nicht im geringsten. »Als Gott die Zeit machte«, sagen die Iren, »hat er genug davon gemacht Zweifellos ist dieses Wort so zutreffend wie des Nachdenkens wert: stellt man sich die Zeit als einen Stoff vor, der uns zur Verfügung steht, um unsere Angelegenheiten dieser Erde zu erledigen, so steht uns zweifellos genug davon zur Verfügung, denn immer ist »Zeit gelassen«. Wer keine Zeit hat, ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt: er stiehlt irgendwo Zeit, unterschlägt sie. (Wieviel Zeit mußte verschlissen, wieviel gestohlen werden, um die zu Unrecht berühmte militärische Pünktlichkeit so sprichwörtlich zu machen: Milliarden gestohlener Stunden Zeit sind der Preis für diese aufwendige Art der Pünktlichkeit, und erst die neuzeitlichen Mißgeburten, die keine Zeit haben! Sie kommen mir immer vor wie Leute, die zuwenig Haut haben...)

Zeit zum Nachdenken bleibt genug, denn es ist längst halb zehn, vielleicht sind die Pfarrer jetzt beim Biologielehrer angelangt, immerhin also bei einem Nebenfach, das könnte die Hoffnung beflügeln. Aber selbst für die, die den Aufschub nicht nutzen, um nachzudenken, selbst für sie ist gesorgt: großzügig werden Schallplatten abgespielt, Schokolade, Eis, Zigaretten zum Verkauf angeboten, denn hier — welch eine Wohltat — darf man im Kino rauchen. Es würde wohl einen Aufstand geben, würde man das Rauchen im Kino verbieten, denn die Leidenschaft des Kinogehens ist bei den Iren mit der des Rauchens gekoppelt.

Die rötlich erleuchteten Muscheln an den Wänden geben nur schwaches Licht, und im Halbdunkel des Saales herrscht eine Munterkeit wie auf einem Jahrmarkt: Gespräche werden über vier Sitzreihen hinweg geführt, Witze über acht Reihen hin gebrüllt; vorne auf den billigen Plätzen vollführen die Kinder einen heiteren Lärm, wie man ihn nur aus Schulpausen kennt; Pralinen werden angeboten, Zigarettenmarken ausgetauscht, irgendwo im Dunkel ertönt das verheißungsvolle Knirschen, mit dem ein Propfen aus einer Whiskeyflasche gezogen wird; das Make-up wird erneuert, Parfüm verspritzt; jemand fängt an zu singen, und für den, der all diesen menschlichen Lauten, Bewegungen, Tätigkeiten nicht zugestehen will, daß sie der Mühe wert sind, die vergehende Zeit zu beanspruchen, für den bleibt die Zeit zum Nachdenken: Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht. Zweifellos, beim Gebrauch der Zeit herrschen sowohl Verschwendung wie Ökonomie, und paradoxerweise sind die Zeitverschwender auch die Sparsamen, denn sie haben immer Zeit, wenn man ihre Zeit beansprucht: um schnell jemand zum Bahnhof oder ins Krankenhaus zu bringen; so wie man Geldverschwender immer um Geld angehen kann, sind die Zeitverschwender die Sparkassen, in denen Gott seine Zeit verbirgt und in Reserve hält, für den Fall, daß plötzlich welche gebraucht wird, die einer von den Zeitknappen an der falschen Stelle ausgegeben hat.

Immerhin: wir sind ins Kino gegangen, um Anne Blyth zu sehen, nicht, um nachzudenken, wenn auch das Nachdenken überraschend leichtfällt und wohltuend ist auf diesem Rummelplatz der Sorglosigkeit, wo Moorbauern, Torfstecher und Fischer im Dunkel den verheißungsvoll lächelnden Damen, die tagsüber mit Straßenkreuzern durch die Gegend fahren, Zigaretten anbieten, Schokolade entgegennehmen, wo der pensionierte Oberst sich mit dem Briefträger über die Vorzüge und Nachteile der Inder unterhält. Hier ist die klassenlose Gesellschaft Realität. Schade nur, daß die Luft so schlecht wird: Parfüm, Lippenstift, Zigaretten, der bittere Torfgeruch aus den Kleidern, und auch die Schallplattenmusik scheint zu riechen: sie dünstet nach der rauhen Erotik der dreißiger Jahre, und die Sitze, wunderbar mit rotem Samt gepolstert — wenn man Glück hat, erwischt man einen, dessen Feder noch nicht gebrochen ist — , diese Sitze, die wahrscheinlich im Jahre 1880 in Dublin als schick gepriesen wurden (Sullivans Opern und Spiele haben sie gewiß gesehen, vielleicht auch Yeats, Synge und O’Casey, den früheren Shaw), diese Sitze riechen so, wie alter Samt riecht, der sich gegen die Rauheit des Staubsaugers, die Wildheit der Bürste sträubt — und der Kinosaal ist ein unfertiger Neubau, noch ohne Lüftung und Ventilation.

Nun, die plaudernden Pfarrer und Kapläne scheinen doch noch nicht beim Biologielehrer angekommen zu sein, oder sollten sie beim Hausmeister sein (ein unerschöpfliches Thema), bei den ersten heimlich gerauchten Zigaretten? Wem die Luft zu schlecht wird, der kann rausgehen, sich für ein paar Minuten an die Kinomauer lehnen: ein heller, milder Abend draußen: noch ist das Licht des Leuchtturms auf Clare Island, 18 Kilometer weit entfernt, nicht zu sehen: der Blick fällt über die ruhige See vierzig, fünfzig Kilometer weit, über den Rand der Clew-Bai bis in die Berge Connemaras und Galways — und wer nach rechts blickt, westwärts, der blickt bis Achill Head, auf die letzten zwei Kilometer Europas, die noch zwischen ihm und Amerika liegen: wild und wie für den Hexensabbat geschaffen, mit Moor und Heide bedeckt, ragt der Croghaun auf, der westlichste der europäischen Berge, zur Seeseite hin 700 Meter steil abfallend; vorne auf seinem Hang im dunklen Moorgrün ein helles kultiviertes Viereck mit einem großen, grauen Haus: hier wohnte Captain Boycot, an dem die Bevölkerung das Boykottieren erfand: hier wurde der Welt eine neue Vokabel geschenkt; einige hundert Meter oberhalb dieses Hauses die Überreste eines abgestürzten Flugzeuges: amerikanische Flieger hatten, um den Bruchteil einer Sekunde zu früh, geglaubt, den freien Ozean vor sich zu haben, die glatte Fläche, die noch zwischen ihnen und der Heimat lag: Europas letzte Klippe wurde ihnen zum Verhängnis, der letzte Zacken dieses Erdteils, den Faulkner in seiner ›Legende‹ »jene winzige Eiterstelle, die den Namen Europa trägt«, nennt...

Bläue zieht sich über die See, in verschiedenen Schichten, verschiedenen Schattierungen, eingehüllt in diese Bläue Inseln, grüne, die wie große Moosplacken wirken, schwarze, zackige, die wie Zahnstümpfe aus dem Meer ragen...

Endlich (oder leider — ich weiß nicht) haben die Priester den Austausch ihrer Schulerinnerungen beendet oder abgebrochen, auch sie kommen, um sich die Herrlichkeit anzusehen, die das Plakat verspricht: Anne Blyth. Die rötlichen Muscheln erlöschen, der Schulpausenlärm auf den billigen Plätzen verstummt, diese ganze klassenlose Gesellschaft versinkt in schweigende Erwartung, während süß, bunt und breitwandig der Film beginnt. Hin und wieder fängt eins der vier- oder dreijährigen Kinder an zu schreien, wenn die Pistolen allzu realistisch knallen, das Blut, zu echt nachgemacht, von der Stirn des Helden fließt oder gar dunkelrote Tropfen auf dem Hals der Schönen sichtbar werden: Oh, muß denn dieser süße Hals durchbohrt werden? Er wird nicht endgültig durchbohrt, nur keine Bange, schnell dem schreienden Kind ein Stück Schokolade in den Mund geschoben: da schmelzen Schmerz und Schokolade im Dunkeln dahin. Am Ende des Films hat man jenes Gefühl, das man seit der Kindheit nicht mehr kannte: als habe man zuviel Schokolade gegessen, zuviel Süßigkeiten genascht: oh, dieses schmerzlich kostbare Sodbrennen zu intensiv genossener Verbotenheit! Nach soviel Süße eine pfeffrige Voranzeige: Schwarzweiß, Spielhölle — harte magere Weiber, häßliche, kühne Helden, wieder die unvermeidlichen Pistolenschüsse, wieder Schokolade in den Mund der Dreijährigen geschoben. Ein großzügig gestaltetes Programm: drei Stunden dauert es, und, auch hier, als die rötlichen Muscheln wieder zu leuchten beginnen, die Türen geöffnet werden: auf den Gesichtern, was nach jedem Kinoschluß auf den Gesichtern zu sehen ist: eine leichte, durch Lächeln übermalte Verlegenheit: man schämt sich ein wenig des Gefühls, das man, ohne es zu wollen, investiert hat. Die Modeheft-Schönheit steigt in ihren Straßenkreuzer, riesige blutrote Rücklichter, glimmend wie Torfstücke, entfernen sich zum Hotel hin — der Torfstecher trottet müde auf seine Kate zu; schweigende Erwachsene, während die Kinder zwitschernd, lachend, weit in die Nacht verstreut sich entfernend, sich den Inhalt des Films noch einmal erzählen.

Mitternacht ist vorüber, längst leuchtet das Leuchtfeuer von Clare Island herüber, die blauen Silhouetten der Berge sind tiefschwarz, einzelne, gelbe Lichter ferne im Moor: dort wartet die Oma, die Mutter, der Mann oder die Frau, um erzählt zu bekommen, was sie an einem der nächsten Tage sehen wird, und bis zwei, bis drei Uhr morgens wird man noch am Kaminfeuer sitzen, denn — als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht.

Esel schreien in der warmen Sommernacht, geben ihren abstrakten Gesang weiter, dieses verrückte Geräusch wie von schlecht geölten Türangeln, von rostigen Pumpen — unverständliche Signale, großartig und zu abstrakt, um glaubhaft zu wirken, unendlichen Schmerz drücken sie aus und doch Gelassenheit. Radfahrer rauschen wie Fledermäuse auf unbeleuchteten Drahteseln vorüber, bis endlich nur noch der ruhige, friedliche Trott der Fußgänger die Nacht erfüllt.